Oratorium DIE JAHRESZEITEN von Joseph Haydn
Ein großes Originalklang-Orchester (Barucco) und der Chor Ad Libitum auf der Bühne des Eisenstädter Schlosses Esterhazy. Dazu mit Daniela Fally, Andreas Schager und Günther Groissböck drei Solisten sowie der Dirigent Heinz Ferlesch: Wann hat man in letzter Zeit eine so geballte Ansammlung von Musikern in einem Konzertsaal erlebt? Die auf der Startseite im gestrigen Online Merker nachzulesende Vermutung, dass das „wohl das allererste große Indoor-Oratorium mit Publikum seit März in Europa“ sei, dürfte damit voll zutreffen. Und gleich vorweg: Auch der dort ebenfalls geäußerte Verdacht, „es könnte sehr schön werden“, hat sich vollauf bestätigt. Und wie!
Im ausverkaufen Haydnsaal – die verbleibenden freien Sitze sind eine Folge der Corona-Auflagen – zieht das Originalklang-Ensemble Barucco schon in der Einleitung zum „Frühling“ alle Aufmerksamkeit auf sich. Das Orchester bringt keine geglättete, weichgespülte Wiedergabe von Haydns bukolisch, aber auch höchst dramatisch angelegter Musik, sondern klingt aufgeraut-erdig und bringt so die rustikale Färbung der Partitur authentisch und wahrhaftig zum Klingen. Der Dirigent Heinz Ferlesch sorgt stets für eine klare Linienführung und fein akzentuierte Rhythmik. Kein verschleppendes Trödeln, vielmehr hat er das musikalische Geschehen stets im Griff. Die dramatischen Zuspitzungen, in denen Haydn schon auf die Romantik verweist, gelingen vortrefflich: das sommerliche Gewitter, die saftige Jagdszene im Herbst, das ausgelassene Trinkgelage nach dem Einbringen der Ernte. Und das strahlend zuversichtliche Lob Gottes im winterlichen vierten Teil, das in der leichenhaften Starre der zur Ruhe gekommenen Natur schon das Aufkeimen neuen Lebens im wiederkehrenden Frühling erahnen lässt. Ein Sonderlob gilt dem Blech und vor allem den beiden Hornisten. Ein pastorales Sittengemälde in plastischen Tönen, in dem auch das Blöken der Schafe, Bellen der Hunde, Gezirpe der Grillen, sowie das Zwitschern und Flöten der Vögel nicht fehlen dürfen. Das schwirrt die Luft und ist wie aufgeladen von dem emsigen Treiben.
Doch was wäre all das ohne den Chor. Hymnisch und beschwörerisch (Juchhe! Juchhe! Heida, Heisa, hopsa!) dann wieder deskriptiv und kommentierend, kommt er in diesem Oratorium durchgehend und außerordentliche präsent zum Einsatz. An den starken fugierten Passagen merkt man, wie prächtig das einstudiert ist. Überhaupt: Wie der Chor Ad Libitum hier ans Werk geht, ist eine reine Freude. Und Freude auszudrücken, das ist wohl auch der Impetus, der Haydn dazu gebracht hat, trotz anfänglicher Skepsis gegenüber dem oft banalen Text das Libretto so liebevoll zu vertonen. Es entspricht in seiner hedonistischen Grundeinstellung wohl dem Lebensgefühl des Komponisten, der als Sohn eines Wagnermeisters auf dem Lande aufgewachsen ist und dem daher die Freuden und Leiden des Landlebens im Jahresablauf bestens vertraut waren.
Die Vokalsolisten sind mit veritablen Größen besetzt und porträtieren archetypische Charaktere der Landbevölkerung. Allen drei gemeinsam ist imponierende Wortdeutlichkeit und bewährte Gestaltungskraft. Die Sopranistin Daniela Fally singt die Passagen des naiven jungen Mädchens Hanne mit fokussierter, unschuldsvoller Inbrunst, mit fein schimmernden Tönen und fundierter Phrasierung. In der Kavatina „Licht und Leben sind geschwächt, Wärm‘ und Freude sind verschwunden“ bringt sie eine der schönsten Melodien Haydns zart und nachdenklich zum Erklingen. Auch ihre Interaktion mit dem Chor in der Spinnrad-Episode im „Winter“ und das darauffolgende Lied vom klugen Dorfmädchen, das den ihm lüstern nachstellenden Edelmann geschickt entwischt, sind wunderbar gestaltet. Fallys klarer Sopran schmiegt sich im „Herbst“-Duett herrlich an Andreas Schagers hellen Tenor, der ganz vortrefflich für zur Rolle des verliebten Lukas passt. Wie Schager die vielen Rezitative meistert und in den Arien seine Stimme verströmen lässt, führt wieder einmal deutlich vor Augen (Ohren?), wie vielseitig einsetzbar er ist. Einen solchen Heldentenor, dem man aufgrund der hier gezeigten Leistung zutrauen könnte, den Evangelisten in Bachs Matthäus Passion zu singen, findet man wohl nicht alle Tage. Ein Sänger für alle Jahreszeiten.
Eine starke Leistung erbringt auch der Bassist Günther Groissböck als souveräner Landmann Simon. Ein gottesfürchtiger Bauer mit klaren Grundsätzen und einem unerschütterlichen Vertrauen in die Schöpfung. Man glaubt ihm sein Bekenntnis im Lied vom Pflügen, dass er „froh“ zur Tat schreitet und den Samen auswirft, in der Gewissheit, dass seine Arbeit Früchte tragen wird. Mächtig und bestimmt tönt seine Mahnung in der Arie „Erblicke hier, betörter Mensch, erblicke deines Lebens Bild!“, in der er den Jahresverlauf mit dem Lebensweg eines jeden Menschen vergleicht und damit auf die großartige Schlussszene einstimmt, in der Chor und Solisten in einem Jubelgesang ihr Gotteslob bekunden.
Heinz Ferlesch ist mit dieser Aufführung ein großer Wurf gelungen. Orchester, Chor und Solisten verschmelzen zu einer homogenen, imponierenden Einheit, zeigen Haydns spätes Meisterwerk in seinen vielen Facetten und beschwören in einem großen dramatischen wie auch beschaulichen Bogen den Jahresverlauf bis hin zum ewigen Frühling im Jenseits. Starker Applaus. Standing Ovations.
Manfred A. Schmid, Online Merker, 9. 8. 2020